Manche nennen es Paranoia

aber nur solange, bis es Gewissheit wird

Im Herzen Europas überschneiden sich Spuren von Archäologie, Biotechnologie und Macht. Calvin Vales Kassandra-Protokoll bleibt nah an der Realität, präzise im Ton und unaufgeregt in der Sprache – und zeigt, wie brüchig die Grenze zwischen Gegenwart und Abgrund wirklich ist.

 

Ich lade sie herzlich ein, den Prolog und die beiden ersten Kapitel meines neuesten Romans: Das Kassandra Protokoll zu lesen.

 

 

Das Kassandra Protokoll - Leseprobe

Kapitel 1 - Genf

Genf erwacht in gedämpften Farben. Der Himmel über dem See ist perlweiß, die Fassaden der Banken und Luxusgeschäfte an der Rue du Rhône wirken im frühen Morgenlicht wie aus Stein gemeißelte Versprechen von Ordnung und Diskretion. Es ist eine Stadt, die ihre Geheimnisse nicht zur Schau stellt. Sie bewahrt sie in Tresoren und hinter verspiegelten Fenstern auf – eine Festung der Neutralität, gebaut auf dem Geld und den Sünden anderer.

In einem kleinen Café in der Altstadt, abseits der Touristenströme, sitzt Gabriel Dornier. Das Aroma von starkem Kaffee und frischem Gebäck hängt in der Luft, vermischt mit dem Geruch alter Bücher, die in Regalen bis unter die Decke reichen. Das „Le Sablier“ – die Sanduhr – ist sein Zufluchtsort. Ein Ort aus der Zeit gefallen, mit abgewetzten Ledersesseln und Tischen aus dunklem, von unzähligen Gesprächen gezeichnetem Holz. Hierher zieht er sich zurück, um zu lesen, zu denken, zu beobachten.

Dornier ist Anfang vierzig, doch in seinen Augen liegt eine zeitlose Wachheit, die ihn älter und jünger zugleich wirken lässt. Er trägt ein einfaches Leinenhemd, die Ärmel hochgekrempelt, und eine unauffällige Hose. Nichts an ihm ist laut oder aufdringlich, und doch zieht er unwillkürlich Blicke auf sich. Wenn er spricht – in seinen Seminaren über historische Mustererkennung an der Universität – hängen die Leute an seinen Lippen, gefesselt von der Klarheit seiner Gedanken. Wenn er schweigt, wie jetzt, scheint er fast unsichtbar zu werden, ein Teil des Interieurs. Ein Phantom.

Vor ihm auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch über antike Kosmologie. Seine Finger streichen über eine Abbildung, eine alte Sternenkarte der Sumerer, doch seine Augen sind nicht auf die Seite gerichtet. Sie nehmen alles um ihn herum auf. Sie folgen dem Spiel des Lichts, das durch das beschlagene Fenster fällt und über den Holztisch wandert. Er beobachtet, wie der Barista, ein alter Mann namens Jean-Pierre, mit präzisen, seit Jahrzehnten eingeübten Bewegungen Milch aufschäumt. Er nimmt das rhythmische Klappern der Tassen wahr, das Stimmengewirr der Gäste, das zu einem einzigen, unaufdringlichen Klangteppich verschmilzt.

„Der Übliche, Monsieur Dornier?“, fragt Jean-Pierre, ohne aufzusehen. Seine Stimme ist ein heiseres Krächzen.

„Wie immer, Jean-Pierre“, antwortet Dornier, ohne den Blick von der Szene vor dem Fenster zu nehmen.

Für die meisten ist es nur Hintergrundgeräusch. Für Gabriel Dornier ist es ein Muster. Sein Gehirn arbeitet anders, verknüpft unaufhörlich Datenpunkte, die andere nicht einmal wahrnehmen. Er sieht die unsichtbaren Fäden, die alles verbinden: den Geschäftsmann am Nebentisch, der nervös auf seine teure Uhr blickt – die linke Manschette seines maßgeschneiderten Hemdes ist leicht ausgefranst, ein Detail, das auf ständiges, nervöses Zupfen hindeutet. Ein Zeichen für Stress, vielleicht finanzielle Sorgen, die selbst hinter einer Fassade aus Reichtum nicht verborgen bleiben.

Er bemerkt die Studentin in der Ecke, die Sätze in ihrem Buch unterstreicht, deren Stift aber jedes Mal leicht zittert, wenn die Türglocke läutet – sie erwartet jemanden, und diese Erwartung ist mit Angst verbunden, nicht mit Freude. Er registriert den Touristen draußen, der zögert, die Karte in seiner Hand dreht und dabei unbewusst in Richtung des teuersten Juweliers der Straße blickt, nicht in Richtung des Museums. Ein geplanter Kauf, kein spontaner Besuch. Wahrscheinlich ein Geschenk, um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Alles ist ein System, eine Kette von Ursache und Wirkung, von Aktion und Reaktion. Er jagt keine Menschen. Er jagt die Muster, die sie hinterlassen. Es ist eine Gabe – und ein Fluch –, diese Welt niemals einfach nur sehen zu können, sondern sie immer lesen zu müssen.

Jean-Pierre stellt den doppelten Espresso auf seinen Tisch. „Die Welt dreht sich weiter, was?“, murmelt er.

Dornier nickt langsam. „Immer im Kreis, Jean-Pierre. Nur die Gesichter ändern sich.“

Sein Blick fällt auf die Eingangstür, als eine junge Frau eintritt. Sie trägt die Uniform des universitätseigenen Kurierdienstes. Ihr Atem bildet kleine Wölkchen in der kühlen Morgenluft. Sie wirkt gehetzt, ihre Bewegungen sind zu schnell für die gemächliche Atmosphäre des Cafés. Ein kleiner Riss im sonst so perfekten Ablauf des Morgens.

Sie nickt ihm kurz zu – sie kennt ihn vom Sehen – und legt einen schlichten, cremefarbenen Umschlag auf den Rand seines Tisches. Kein Absender. Nur sein Name, in sauberer, fast steriler Maschinenschrift: Gabriel Dornier.

Die Frau ist schon wieder verschwunden, bevor er etwas sagen kann. Die Türglocke klingt ein letztes Mal, dann schließt sich die Tür, und die Stille des Cafés legt sich wieder über alles. Der Umschlag liegt da – ein Fremdkörper in der Routine des Morgens. Eine Anomalie im Muster.

Dornier rührt sich nicht. Seine Finger liegen nur Millimeter vom Rand des Papiers entfernt. Er betrachtet den Umschlag, als wäre er ein ungelöstes Rätsel. Das Papier ist von hoher Qualität, schwer, fast kartonartig. Leinenstruktur. Die Kanten perfekt geschnitten, nicht von einer gewöhnlichen Maschine. Ein Laser, vielleicht. Die Schrift stammt von keinem Standarddrucker. Zu präzise, zu scharf. Eine Serifenschrift, aber ohne Persönlichkeit. Militärisch, beinahe. Wer macht sich heute noch diese Mühe?

Sein Puls beschleunigt sich kaum merklich – ein unwillkürliches Echo aus einer anderen Zeit. Es ist lange her, dass etwas seine sorgsam konstruierte Welt aus Beobachtung und Analyse durchbrochen hat. Sein Leben in Genf ist bewusst unauffällig, ein selbstgewähltes Exil aus einer Vergangenheit, über die er nicht spricht. Eine Vergangenheit, in der er für Leute gearbeitet hat, die in Umschlägen wie diesem dachten und handelten. Eine Vergangenheit, in der solche Umschläge Ärger bedeuteten. Oder den Tod.

Mit einer langsamen, kontrollierten Bewegung schiebt er das Buch zur Seite. Er nimmt den Umschlag in die Hand. Dünn, aber nicht leer. Er spürt den Umriss eines einzelnen, gefalteten Blattes im Inneren. Kaum mehr als zwanzig Gramm. Keine Waffe, kein Sprengstoff. Nur Information. Und Information, das weiß er besser als die meisten, kann gefährlicher sein als beides zusammen.

Er dreht den Umschlag um. Die Rückseite ist leer. Versiegelt, aber nicht mit Wachs oder einem offiziellen Stempel. Nur ein dünner Streifen Klebstoff, professionell aufgetragen. Alles an diesem Objekt schreit nach Anonymität – und nach eiskalter Absicht. Es ist kein Zufall. Es ist eine Nachricht. Eine gezielte Störung seines Systems.

Seine Finger finden die Kante, reißen das Papier vorsichtig auf. Der Riss ist das lauteste Geräusch im Café, ein scharfes Zerreißen der Stille, das ihn zusammenzucken lässt. Er zieht ein einzelnes, einmal gefaltetes Blatt A4 heraus. Kein Brief. Kein Text. Keine Forderung.

Nur ein Foto.

Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, körnig, aus großer Entfernung mit einem Teleobjektiv gemacht. Sie zeigt eine Parkbank an einem Flussufer bei Nacht. Ein Mann sitzt darauf, zur Seite gesackt, als würde er schlafen. Neben ihm eine offene Mappe, aus der Papiere quellen. Die Qualität ist schlecht, die Schatten sind tief, doch Dornier erkennt die Silhouette von Paris im Hintergrund. Die Pont Neuf, undeutlich, aber unverkennbar. Und er sieht den dunklen Fleck an der Schläfe des Mannes, die noch dunklere Lache zu seinen Füßen. Kein Schlaf. Eine Exekution.

Unter dem Bild steht eine einzige Zeile, wieder in dieser kalten, präzisen Maschinenschrift:

Sie haben das Muster gefunden. Jetzt findet es Sie.

Dornier starrt auf das Foto. Seine Hände sind vollkommen ruhig. Sein Gesicht eine Maske der Konzentration. Der alte Mechanismus springt an – ungefragt, präzise. Er sieht nicht nur das Foto, er sieht die Logistik dahinter: den Winkel des Schützen, die Wahl der Tageszeit, die bewusste Platzierung einer falschen Fährte. Mit jedem Detail, das sein Verstand zusammensetzt, spürt er den alten, kalten Geschmack im Mund. Den Geschmack von Arbeit, die er nie wieder tun wollte.

Dies ist nicht nur eine Nachricht. Es ist ein Rückfall.
Er kennt den Mann nicht. Er kennt die Situation nicht. Aber er kennt die Sprache, die hier gesprochen wird. Dies ist kein Hilferuf. Es ist eine Warnung. Oder eine Einladung. Ein Test. Sie wollen sehen, wie er reagiert.

Er faltet das Papier langsam zusammen, schiebt es zurück in den zerrissenen Umschlag. Sein Blick hebt sich, scannt das Café. Der Geschäftsmann telefoniert jetzt, die Stimme leise, aber angespannt. Die Studentin blickt immer noch zur Tür. Der Tourist ist verschwunden. Alles scheint normal. Doch die Normalität ist nun eine Lüge. Das Muster ist zerbrochen. Jemand hat einen Stein in den ruhigen Teich seines Lebens geworfen – und die Wellen breiten sich aus.

Er legt ein paar Münzen auf den Tisch, mehr als genug für den Kaffee. Nickt Jean-Pierre zu, ein stummer Abschied, endgültiger als sonst. Dann steht er auf, schiebt den Stuhl leise zurück und geht zur Tür.

Die kalte Genfer Luft schlägt ihm ins Gesicht, als er auf die Straße tritt. Die Stadt wirkt plötzlich anders. Die Fassaden der Banken sind keine Versprechen von Ordnung mehr, sondern Mauern, hinter denen unsichtbare Mächte lauern. Die Gesichter der Passanten keine offenen Bücher mehr, sondern potenzielle Beobachter. Jeder, der zu lange hinschaut, jeder, der sein Tempo verlangsamt, ist eine mögliche Bedrohung.

Er geht ohne Zögern in Richtung seiner Wohnung, einer unauffälligen Bleibe in einem alten Gebäude mit Blick auf einen ruhigen Innenhof. Sein Gang ist ruhig, doch seine Sinne sind auf höchster Alarmstufe. Er prüft die Spiegelungen in Schaufenstern, lauscht auf Schritte hinter sich, sucht nach Fahrzeugen, die ihm folgen. Er ist wieder der Mann, der er nie mehr sein wollte.

Und in der Stille des Genfer Morgens spürt er zum ersten Mal seit Jahren etwas, das er fast vergessen hatte: den leisen, elektrisierenden Hauch des Unbekannten. Eine Mischung aus Furcht – und einer dunklen, fast süchtig machenden Aufregung.

Und er weiß, dass seine ruhigen Tage im „Le Sablier“ gezählt sind. 

Das Muster hat ihn gefunden.

Und er hat keine andere Wahl, als ihm zu folgen.

Kapitel 2 - Das Dossier

Gabriel Dorniers Wohnung ist eine Festung. Nicht aus Stahl und Beton, sondern aus Ordnung und Stille. Sie liegt im obersten Stockwerk eines alten Genfer Stadthauses, die Fenster blicken auf einen ruhigen, von Efeu bewachsenen Innenhof, abgeschirmt vom Lärm der Stadt. Es gibt keine persönlichen Fotos, keine Souvenirs, keine Spuren eines Lebens außerhalb dieser Wände. Nur Bücher. Tausende von Büchern, geordnet nicht nach dem Alphabet, sondern nach einem ihm eigenen System von Querverbindungen und thematischen Clustern. Geschichte, Anthropologie, Kryptografie, Physik, Mythologie. An den Wänden hängen keine Bilder, sondern Landkarten und Sternenkarten verschiedener Epochen. Es ist das Refugium eines Mannes, der die Welt in Systemen denkt und die Unordnung des menschlichen Lebens auf ein Minimum reduziert hat. Ein steriler, sicherer Hafen.

Doch die Sicherheit ist jetzt eine Illusion.

Er schließt die schwere Eichentür hinter sich, das Klicken des Sicherheitsschlosses hallt in der Stille wider. Ein, zwei, drei Riegel schiebt er vor. Alte Gewohnheiten. Er bleibt einen Moment im Flur stehen, lauscht. Das Knarren des alten Gebälks. Das ferne Rauschen des Verkehrs. Nichts Ungewöhnliches. Trotzdem führt ihn sein erster Weg nicht zum Schreibtisch, sondern zu einem unauffälligen Panel neben der Tür. Ein kurzer Blick auf die Anzeige. Alle Sensoren an Fenstern und Türen sind intakt. Keine Unterbrechung der Stromzufuhr, seit er die Wohnung verlassen hat. Er ist allein. Vorerst.

Das Konto in Zürich war sein einziger Luxus geblieben – alt, diskret, verschleiert durch Firmen, die niemand mehr kontrollierte. Es reichte für Flüge, Hotels, Ausrüstung. Für alles andere hatte er längst gelernt, unsichtbar zu bleiben.

Erst jetzt legt er den cremefarbenen Umschlag auf den großen Holztisch, der den Mittelpunkt seines Arbeitszimmers bildet. Die Oberfläche ist leer, bis auf einen Laptop, einen Notizblock und einen einzigen, perfekt gespitzten Bleistift. Er zieht das Foto heraus und legt es unter das grelle, weiße Licht einer Architektenlampe.

Die Analyse beginnt. Er ignoriert vorerst den Toten und die bedrohliche Nachricht. Das sind die emotionalen Komponenten, die Ablenkungen. Er konzentriert sich auf die Fakten, die das Bild ihm liefert. Die Körnung des Fotos. Hochauflösend, aber digital verfremdet, um den Eindruck einer alten Aufnahme zu erwecken. Ein bewusster Versuch, die Herkunft zu verschleiern. Die Metadaten der Datei wären sicher gelöscht, das wusste er, noch bevor er das physische Foto überhaupt digitalisieren würde. Der Winkel. Von oben, leicht seitlich. Ein Fenster? Ein Balkon? Eher nicht. Die Perspektive ist zu stabil. Ein Stativ. Professionelle Überwachungsausrüstung.

Er greift nach einer Lupe. Seine Finger sind ruhig, seine Bewegungen präzise. Er untersucht die Papiere, die aus der Mappe des Toten quellen. Unleserlich, nur verschwommene Linien. Aber auf einem der Blätter, am äußersten Rand, erkennt er etwas. Ein Symbol. Zwei Schlangen, die sich spiralförmig um einen Stab winden – ein uraltes Siegel, älter als Ägypten, aus den Tiefen Sumeriens: Ningishzida, der Herr des Lebensbaums. Für die einen ein Gott der Unterwelt, für die anderen das Zeichen von Fruchtbarkeit und Wiederkehr. Es war kein alchemistisches Ornament, sondern eine Spur aus einer Zeit, in der die Sterne noch als Sprache der Götter galten. Ein seltenes Motiv und fast vergessen in unserer Zeit. Aber in welchem Kontext steht dies Symbol?

Er lässt die Lupe sinken. Die Nachricht ist klar: Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wie du denkst. Wir sprechen deine Sprache. Das Symbol ist nicht für die Polizei bestimmt, nicht für die Medien. Es ist für ihn.

Sein Laptop erwacht mit einem leisen Surren zum Leben. Er nutzt keine kommerzielle Suchmaschine. Sein Zugang zum Netz führt über mehrere, verschlüsselte Server, ein Relikt aus seiner Vergangenheit, dass er wie ein seltenes Werkzeug pflegt. Er beginnt mit der Suche. „Toter Mann, Pont Neuf, Paris.“

Die ersten Ergebnisse sind vage. Ein Polizeibericht über einen nicht identifizierten Mann, gefunden in den frühen Morgenstunden. Verdacht auf Überdosis. Ein Routinefall für die Pariser Gendarmerie. Nichts, was die internationale Presse aufgreifen würde. Noch nicht.

Er lehnt sich zurück. Der Nebel. Genau wie in einem Storyboard für einen Roman beschrieben. Sie schaffen eine falsche Realität, eine einfache, plausible Geschichte, um die Wahrheit zu verbergen. Ein Muster, das so alt ist wie die Spionage selbst. Aber wer sind sie?

Ein Szenenwechsel. Weg von der sterilen Ordnung Genfs, hinein in das organisierte Chaos von Paris.

Am Quai des Orfèvres, dem historischen Sitz der Pariser Kriminalpolizei, riecht es nach kaltem Rauch, feuchtem Papier und einer tief sitzenden Müdigkeit. Commissaire Alain Dubois hasst diesen Geruch. Er hasst ihn seit dreißig Jahren. Dubois ist ein Mann, der aus der Zeit gefallen scheint. Sein zerknitterter Trenchcoat, die unaufhörliche Gauloises zwischen seinen Lippen und die tiefen Falten um seine Augen erzählen Geschichten von unzähligen Verhören, Tatorten und schlaflosen Nächten. Er steht kurz vor der Pensionierung und sehnt sich nur noch nach einem ruhigen Leben in der Provence, mit einem Weinberg und ohne Leichen.

„Eine Überdosis, die keine ist“, knurrt sein Vorgesetzter, ein aalglatter Karrierist namens Leclerc, und wirft eine dünne Akte auf Dubois' überladenen Schreibtisch. „Die Leiche von der Seine. Der Gerichtsmediziner hat das hier gefunden.“

Dubois öffnet die Akte. Ein Foto einer winzigen Wunde an der Schläfe des Opfers. Ein perfekter, kleiner Kreis. Kaum Blut. „Eiskalt“, schrieb der Gerichtsmediziner in seinem Bericht. „Abgefeuert aus nächster Nähe mit einem kleinkalibrigen Projektil. Die Waffe könnte osteuropäischen Ursprung sein. Vielleicht eine modifiziert Makarow mit Schalldämpfer. Wir wissen es schlicht nicht. Ein Profi.“

„Und das hier“, fährt Leclerc fort und schiebt ein kleines Beweismitteltütchen über den Tisch. Darin ein weiteres Tütchen, mit weißem Pulver. „Reinstes Heroin. Gefunden in seiner Manteltasche. Passt nicht zusammen, oder? Ein Junkie, der von einem Profikiller hingerichtet wird?“

„Nein“, sagt Dubois langsam und zündet sich eine neue Zigarette an. Der Rauch hüllt sein Gesicht in einen grauen Schleier. „Das passt überhaupt nicht zusammen. Wer ist der Mann?“

„Das ist der nächste Widerspruch“, sagt Leclerc und lehnt sich an den Türrahmen. „Frédéric Lagère. Professor für Astrophysik an der Sorbonne. Hochangesehen. Keine Vorstrafen. Kein bekannter Drogenkonsum. Ein Witwer. Lebt allein. Sein Leben war so sauber wie ein Labortisch.“

Dubois blättert weiter in den Tatortfotos. Die Bank. Die Blutlache. „Was ist mit seinen persönlichen Gegenständen?“

„Brieftasche und Uhr waren unberührt“, sagt Leclerc. „Seine Aktentasche fanden die Kollegen etwa fünfzehn Meter entfernt in einem Gebüsch am Ufer. Leer, bis auf ein paar verstreute Papiere in der Nähe.“

„Welche Art von Papieren?“, fragt Dubois und hält inne.

„Der übliche Kram eines Professors. Notizen für Vorlesungen, Ausdrucke von Sternenkarten, nichts, wofür man töten würde. Wir gehen davon aus, der Täter hat die Tasche auf der Flucht weggeworfen, nachdem er das genommen hat, was er wollte.“

„Aber in der Tasche war nichts, was auf Drogen oder große Mengen Bargeld hindeutet“, stellt Dubois fest, mehr zu sich selbst als zu Leclerc. „Der Täter platziert Heroin am Opfer, stiehlt aber nichts Offensichtliches aus der Tasche, die er dann wegwirft? Das ergibt keinen Sinn.“

„Genau. Es ist widersprüchlich“, erwidert Leclerc ungeduldig. „Deshalb die offizielle Linie: Ein angesehener Mann mit einem geheimen Laster. Eine Tragödie. Ein Drogengeschäft, das schiefgelaufen ist. Es ist einfach, es ist schmutzig, und die Leute werden es glauben. Wir ermitteln in Richtung Drogenmilieu. Verstanden, Alain?“

Dubois nickt langsam. Er versteht. Er soll nicht die Wahrheit finden. Er soll den Fall abschließen. Er hasst diesen Job.

Zurück in Genf. Stunden sind vergangen. Die Sonne steht jetzt höher, doch in Dorniers Wohnung bleibt es dämmrig. Er hat die Vorhänge zugezogen. Er hat die Identität des Mannes auf dem Foto herausgefunden: Professor Frédéric Lagère. Seine Recherche geht tiefer als eine einfache Namenssuche. Er taucht ein in das digitale Echo eines Lebens und was er findet, ist nicht nur die Geschichte eines brillanten Geistes, sondern die eines Querdenkers.

Lagères wissenschaftliche Reise hatte im Mainstream begonnen, mit Arbeiten über die Expansion des Universums und die Natur Schwarzer Löcher. Doch je tiefer er in die fundamentalen Fragen der Kosmologie vordrang, desto mehr stieß er auf eine beunruhigende Erkenntnis: Die moderne Physik, bei all ihrer mathematischen Eleganz, konnte die grundlegendsten Fragen nicht beantworten. Was war vor dem Urknall? Was ist die wahre Natur der Zeit? Frustriert von den Grenzen seiner eigenen Disziplin, begann er, nach Antworten an einem Ort zu suchen, den seine Kollegen mit Verachtung straften: in der Vergangenheit.

Er stürzte sich auf die Archäoastronomie, ein Feld, das die meisten als esoterische Spinnerei abtaten. In einem Interview, das Gabriel in einem obskuren Online-Journal findet, fasst Lagère seine kühne These selbst zusammen: „In der Quantenphysik spricht man vom holografischen Prinzip. Informationen im Universum verhalten sich wie in einem Resonanzfeld – als hätte die Wirklichkeit selbst ein Echo. Die Sumerer haben das vielleicht schon gewusst, nur in einer anderen Sprache." Lagère suchte nach einem kosmologischen Stein von Rosetta. Er war überzeugt, dass die erstaunlich präzisen Sternenkataloge der Sumerer und ihre Mythen über Götter vom Himmel nicht nur Geschichten waren, sondern verschlüsselte Datensätze. Seine kontroverse Theorie besagte, dass die Sumerer Zeugen von Himmelsphänomenen – vielleicht zyklischer Natur – geworden waren, die in unserer modernen Ära nicht mehr beobachtbar sind. Phänomene, die sie in der Sprache beschrieben, die ihnen zur Verfügung stand: in der Sprache der Götter und Mythen. Er suchte in den alten Texten nicht nach Göttern. Er suchte nach Echos von Gravitationswellen, nach den Spuren vergessener Kometen, nach Mustern im kosmischen Tanz, die unsere modernen Instrumente, blind durch ihre eigenen Theorien, nicht zu suchen gelernt hatten. Er war kein Esoteriker. Er war ein Musterjäger, genau wie Gabriel. Nur auf einer viel größeren, kosmischen Leinwand.

Ein Name taucht in einem älteren Interview auf. Ein Mentor, ein Vorbild für Lagère. Dr. Aris Thorne.

Der Name lässt Gabriel erstarren. Aris Thorne. Sein eigener Mentor. Ein pensionierter Geschichtsprofessor vom Institut Le Rosey, der legendären Eliteschule am Genfersee, die Prinzen, Oligarchen und die Erben globaler Imperien ausbildet. Thorne war dort eine Institution gewesen, ein unangepasster Geist in einem goldenen Käfig. Er hatte nicht einfach nur Geschichte gelehrt; er hatte den Kindern der Mächtigen die Muster der Macht gelehrt, die Aufstiege und Fälle von Dynastien, die verborgenen Ströme, die den Kurs der Zivilisation lenken. Für die meisten seiner Schüler war es nur eine weitere exzentrische Lektion. Für einen jungen, brillanten Gabriel Dornier war es eine Offenbarung. Thorne hatte sein Talent erkannt, ihn unter seine Fittiche genommen und ihm beigebracht, die Welt nicht als eine Abfolge von Ereignissen zu sehen, sondern als ein einziges, komplexes Muster. Nach und nach führte er Gabriel tiefer in der Geschichte zurück. Das alte Ägypten, was so ambivalent und kontrovers erschien, wich dem alten Babylon bis ins alte Reich der Sumerer. In eine Zeit vor der großen Flut. Thorne verstand es die geschichtlichen Abhandlungen so zu gestalten, dass revolutionäre Funde, wie die Plimpton 322 Tafel zu einer logischen Konsequenz, zu einem Muster, wurden. Nach seiner Pensionierung hatte Thorne sich in die Einsamkeit der Schweizer Alpen zurückgezogen, sein Chalet in eine Festung aus Büchern und Paranoia verwandelt. Ein exzentrischer, genialer Mann, der Gabriel gelehrt hatte, die Muster hinter der Geschichte zu erkennen. Die Verbindung ist da. Dünn, aber unbestreitbar.

Er muss mit Thorne sprechen. Aber ein normaler Anruf ist ausgeschlossen. Er geht zu einem Bücherregal, zieht einen Band mit griechischer Philosophie heraus. Dahinter verbirgt sich eine kleine Nische in der Wand. Darin liegt ein Satellitentelefon. Er schaltet es ein. Es braucht einen Moment, um eine Verbindung herzustellen, ein digitales Händeschütteln über Tausende von Kilometern. Er wählt eine Nummer, die er auswendig kennt.

Es klingelt lange. Dann eine knarzende, von Misstrauen durchtränkte Stimme. „Wer ist da?“

„Ein ehemaliger Schüler, der eine Frage zur Kosmologie hat“, sagt Gabriel. Es ist ihr alter Code.

Eine Pause. Dann: „Dornier? Bist du das? Ich dachte, du wärst von der Bildfläche verschwunden.“

„Das war der Plan“, antwortet Gabriel. „Aris, ich brauche deinen Rat. Es geht um einen französischen Astrophysiker. Frédéric Lagère.“

Wieder Stille am anderen Ende. Gabriel kann sich Thorne vorstellen, wie er in seinem Chalet sitzt, umgeben von Büchern und Überwachungsmonitoren, die Augen zu Schlitzen verengt. „Lagère. Der Mann aus den Nachrichten. Eine Schande. Drogen sind eine schmutzige Sache.“

„Es waren keine Drogen, Aris. Und das weißt du.“

Ein tiefes Seufzen. „Ich habe gehofft, du würdest dich da raushalten, Junge. Ich habe wirklich gehofft, du hättest deinen Frieden gefunden.“

„Der Frieden hat mich verlassen“, sagt Gabriel leise. „Was weißt du über ihn?“

Thorne zögert. „Nicht viel. Er hat mich vor ein paar Wochen kontaktiert. Eine seltsame E-Mail. Er war aufgeregt. Sprach von sumerischen Keilschriften, die er mit Sternenkarten abgeglichen hatte. Er glaubte, er hätte ein Muster gefunden. Eine Art Botschaft, versteckt in den Mythen und den Sternen. Er faselte davon, die menschliche Geschichte neu kontextualisieren zu müssen.“

Gabriels Puls wird schneller. Sie haben das Muster gefunden.

„Ich habe es als akademische Schwärmerei abgetan“, fährt Thorne fort. „Wissenschaftler, die kurz vor dem Durchbruch stehen, neigen zur Übertreibung. Er fragte mich nach meiner Meinung zu einigen Übersetzungen. Ich bin Historiker, kein Sprachwissenschaftler. Also habe ich seine Anfrage weitergeleitet.“

„An wen?“, fragt Gabriel, obwohl er die Antwort bereits zu ahnen scheint. Der Kreis schließt sich. Das Muster wird klarer.

„An eine meiner brillantesten ehemaligen Studentinnen. Eine Expertin für alte Sprachen. Sie hat sich auf Keilschrift spezialisiert. Eine junge Frau, sehr talentiert, sehr ehrgeizig und fast so wissbegierig, wie du damals.“ Thorne macht eine Pause. „Ihr Name ist Elena Petrova. Sie hat eine Postdoc-Stelle. An der Universität Genf.“

Die Information hängt in der Luft, schwer und voller Bedeutung. Direkt vor seiner Haustür. Die ganze Zeit. Der Umschlag war kein Zufall. Er war der erste Schritt auf einem sorgfältig ausgelegten Pfad. Sie haben ihn nicht nur gewarnt. Sie haben ihn in eine bestimmte Richtung geschickt.

„Aris…“, beginnt Gabriel, aber sein Mentor unterbricht ihn.

„Hör zu, Gabriel. Das riecht nach den alten Tagen. Es riecht nach Leuten, die keine Zeugen mögen. Und es riecht sehr nach Tod. Lagère hat in etwas herumgestochert, das verborgen bleiben sollte und dessen Konsequenz er wohl nicht verstanden hat. Und jetzt schicken sie dich hinterher, um zu sehen, was du tust. Du bist Teil ihres neuen Musters. Eine Variable in ihrem Experiment. Sei verdammt vorsichtig. Muster können auch Fallen sein.“

„Ich weiß“, sagt Gabriel. „Danke, Aris.“

Er beendet das Gespräch. Die Stille in seiner Wohnung ist jetzt anders. Sie ist nicht mehr friedlich. Sie ist lauernd.

Er geht zum Fenster und zieht den Vorhang einen Spalt breit zur Seite. Unten im Innenhof ist alles ruhig. Ein Gärtner schneidet die Rosen. Eine Frau hängt Wäsche auf. Ein perfektes, friedliches Bild. Aber Gabriel sieht es nicht mehr so. Er sieht die möglichen Beobachtungsposten in den Fenstern gegenüber. Er sieht den Lieferwagen am Ende der Straße, der dort schon zu lange parkt.

Der Nebel lichtet sich, aber was dahinter zum Vorschein kommt, ist eine Landschaft voller unsichtbarer Bedrohungen. Er hat einen Namen. Elena Petrova. Er muss sie finden, bevor sie es tun. Oder haben sie das längst? Ist sie die nächste auf der Liste? Oder ist sie Teil der Falle?

Er lässt den Vorhang fallen. Sein ruhiges Leben in Genf ist vorbei. Die Festung ist gefallen. Er löscht die Anrufliste des Satellitentelefons, fährt seinen Laptop herunter und beginnt, seine Spuren zu verwischen. Die Jagd hat begonnen. Und er ist nicht mehr der Jäger. Er ist der Köder.

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